Alte Probleme, neues Denken und versteckte Potentiale
23.07.2024
Die Baubranche ist der größte Gefährder der Klimaziele. Weltweit ist sie für über 40% der CO2-Emissionen verantwortlich. Es braucht dringend eine Transformation, neue Wege und nachhaltigere Denkweisen, um dieses Problem zu lösen. Und Gelsenkirchen ist – auch mit Projekten wie Haus Reichstein – in dieser Hinsicht Vorreiter und Vorzeigebeispiel. Zu diesem Konsens kamen die Teilnehmer:innen der Fokus-Session unter dem Titel “Abreißen oder Sanieren?” im Haus Reichstein.
In ihrem Vortrag erklärte Sarah Dungs (Greyfield Immobilien & Verband Bauen im Bestand), wie sich die Baubranche in den vergangenen 30 Jahren zum größten CO2-Emittenten entwickelte, und wie sich dieses Problem mit neuen Denkweisen lösen lässt.
Vor der Diskussion führte Sarah Dungs (Greyfield Immobilien & Verband Bauen im Bestand) mit ihrem Impulsvortrag “Wie wir die Welt verändern” in das Thema ein. “Ich bin überzeugt, dass die Immobilienbranche vor der größten Transformation der letzten 30 Jahre steht.” Mit diesem Einstiegsstatement machte sie ihren Standpunkt unmissverständlich klar. 1990 fand die erste große Transformation der Baubranche statt. Mit ihr verschob sich der Fokus des Bauens. “Bauvorhaben wurden nicht mehr nach dem tatsächlichen Bedarf und den Bedürfnissen der Menschen gebaut, sondern nach den Bedürfnissen der Investoren und des Geldes”, erklärte Sarah Dungs. Kapital und Rendite wurden die neuen Triebfedern der Boom-Branche. Dieser Wandel hatte einen massiven Einfluss auf die Praxis: Der Neubau wurde zur neuen Maxime.
Nach dem Vortrag diskutierten Tobias Clermont (SEG Gelsenkirchen), Santana Gumowski (Baukultur NRW) und Irja Hönekopp (Stadt Gelsenkirchen) die Leitfrage der Fokus-Session gemeinsam mit Sarah Dungs.
Heute wird diese Maxime durch die multiplen Krisen der Gegenwart massiv in Frage gestellt, vor allem durch die Klimakrise. Im Rahmen der Professionalisierung und dem Credo des Neuen hat sich die Branche zu einem der schlimmsten Umweltsünder entwickelt. Ein Neubau produziert Abfall, ist ressourcenintensiv und verursacht CO2 in rauen Mengen. Der Verweis darauf, dass Neubauten gegenüber Bestandsgebäuden dafür im Betrieb effizienter arbeiten, trägt hier nicht. Die Menge an CO2, die beim Neubau entsteht, übersteigt die im Betrieb eingesparte Menge um ein Vielfaches.
Angesichts dieser Zahlen ist es für Sarah Dungs völlig klar, dass ein Umdenken stattfinden muss und wird: “Es müssen Wege gefunden werden, den CO2-Ausstoss zu senken, und die Immobilienbranche ist der größte Hebel. Das Leitmotiv Neubau muss durch einen neuen Dreiklang ersetzt werden: CO2 reduzieren – Abfall vermeiden – Ressourcen erhalten.” Bauen im Bestand muss die neue Maxime der Wahl werden. An diesem Wandel wird die Baubranche nicht vorbeikommen.
Auch in der anschließenden Diskussion stimmten die weiteren Teilnehmenden den Ausführungen von Sarah Dungs zu. Santana Gumowski (Baukultur NRW) betonte ebenfalls, dass angesichts der planetaren Grenzen neue Antworten zu suchen sind: „Wir müssen uns mehr mit der Frage beschäftigen, wie wir Materialien, die bereits verbaut sind, zurückgewinnen und wiederverwerten können.” Tobias Clermont von der Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen (SEG Gelsenkirchen) stimmte den Ausführungen zu, fügte aber auch an, dass ein Abriss nicht immer zu verhindern ist: “Der Bestandserhalt hat in meinen Überlegungen immer oberste Priorität ist. Aber gelegentlich sind die Gebäudesubstanz oder auch die Lage Argumente, die deutlich gegen den Erhalt eines Gebäudes sprechen.”
Tobias Clermont (SEG Gelsenkirchen) betonte, dass der Bestandserhalt in Gelsenkirchen immer oberste Priorität hat. Das muss aber im Einzelfall von Gebäude zu Gebäude entschieden werden. Damit fahre man in Gelsenkirchen sehr gut.
Irja Hönekopp (Stadt Gelsenkirchen) verwies an der Stelle auch auf die besondere Situation auf dem Gelsenkirchener Wohnungsmarkt: “Seit 1960 haben über 140.000 Menschen die Stadt verlassen, über 6% der Wohnungen stehen leer. Der Leerstand führt auch zu komplexen sozialen und ökonomischen Problemlagen, die neben der Nachhaltigkeit auch bei der Entscheidung über Sanierung oder Abriss mitbedacht werden müssen.”
Tobias Clermont fügte hinzu, dass in Gelsenkirchen vor allem mehr qualitativ hochwertiger Wohnraum benötigt wird: “Darauf arbeitet die Zukunftspartnerschaft hin. Aber viele Gebäude weisen teilweise einen bis zu 40-jährigen Investitionsstau auf. Dadurch wird die Aufgabe natürlich deutlich schwerer. Und trotzdem zeigen gerade die Aktivitäten rund um die Bochumer Straße, wie das Gelsenkirchener Modell trotz dieser Schwierigkeiten funktioniert. Und dieser Erfolg wird auch in den umliegenden Städten anerkannt.” Es sei aber auch klar, dass der Abriss auch in Zukunft nicht als Option völlig auszuklammern sei.
In diesem Punkt pflichtete Irja Hönekopp ihm bei, machte aber auch nochmal deutlich, dass man in Zukunft stärker die Frage nach der Wiederverwertung von Rohstoffen stellen könne, wenn ein Abriss unvermeidbar ist. Santana Gumowski wies auch noch mal auf die Möglichkeit der “Umprogrammierung” von Gebäuden hin, also eines Umbaus, der ein Gebäude zu einem neuen Nutzen umfunktioniert. Als Beispiel nannte sie ein Krankenhaus in Basel, das zu einem Wohngebäude umgebaut wurde. Nach Meinung von Sarah Dungs ist es auch wichtig, eines nicht aus den Augen zu verlieren: ”Das Ruhrgebiet hat ein großes Potential, das aktiviert werden muss. Oder wie ich gerne sage, über Tage gefördert werden muss.” Ein Beispiel für erfolgreiche Potentialförderung durch Sanierung ist das Haus Reichstein selbst. Die ehemalige Problemimmobilie ist heute nicht nur Modellhaus, sondern mit dem Café im Erdgeschoss auch ein lebendiger Ankerpunkt für das Leben im Stadtteil.