Prof. Dr. Martin Franz vor einem Bildschirm im Cafe Ütelier. Auf dem Bildschirm ist ein Foto einer Kneipe zu sehen und die Überschrift "Das Ende der Kneipen und warum ich sie vermissen werde:"

Von Bier und Begegnung: Die Magie der Eckkneipe

20.09.2024

Die Älteren werden sich erinnern: Peter Alexander sang schon 1975 fast wehmütig von der “Kleinen Kneipe in unserer Straße” – da, wo seiner Meinung nach, das Leben noch lebenswert war. Er beschreibt in dem Song – zugegeben vielleicht ein wenig verklärt – einen Ort, an dem die Breite der Gesellschaft zusammenkommt, Hintergrund und Herkunft wenig zählt, an dem Begegnung mit anderen leicht fällt.

Dr. Daniel Schmidt vor einem Bildschirm mit der Übersicht über seinen Vortrag zur Kneipengeschichte Gelsenkirchens.

Dr. Daniel Schmidt warf in seinem Vortrag einen Blick zurück bis in die frühe Zeit des Dorfs Gelsenkirchens. Der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte gab Einblicke in die Vergangenheit der Kneipen, Gasthäuser, Brennereien und Trinkhallen der Stadt Gelsenkirchen.

Bei unserer Fokus-Session “Kulturgut Kneipe” kamen die beiden Referenten zu einem ähnlichen Fazit. Sowohl in der stadthistorischen Betrachtung der Thematik “Gastwirtschaft” von Dr. Daniel Schmidt (Institut für Stadtgeschichte) als auch aus der Sicht des Humangeographen Prof. Dr. Martin Franz (Universität Osnabrück) steht fest: Kneipen sind und waren Orte der Zusammenkunft, des Austauschs und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Den Auftakt des Abends machte Dr. Daniel Schmidt, Historiker und Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte. Er blickte zurück bis in die früheste dokumentierte Gelsenkirchener Geschichte, also das frühe 19. Jahrhundert. Damals waren die Gasthäuser – trotz der Betitelung als “Dorf der Brauer und Brenner” (Kortum) – noch rar gesät – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Heimatstadt des Haus Reichstein damals keine 500 Einwohner hatte. Doch mit der Industrialisierung wuchs auch der Durst der Arbeiter, die von Nah und Fern kamen, um hier unter und über Tage zu malochen. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: An einem warmen Sommertag in den 1950er-Jahren kann man von einem Tagesverbrauch von 330.000 Gläsern Bier im Stadtgebiet ausgehen.

Mit dem Wachstum der Kneipenlandschaft und dem Wachstum der Stadt übernahmen die Lokale wichtige Funktionen im Zusammenleben der Menschen. Schon in der Vorindustriellen Zeit, bevor es so etwas wie ein Rathaus gab, trafen sich die Amtsmänner in Gastwirtschaften, um hier über die politischen Angelegenheiten der Gemeinde zu entscheiden. Später waren Kneipen Treffpunkte der Arbeiterbewegung und Orte der Politisierung. Wirte waren oft gut informiert und ebenso gut vernetzt. Da überrascht es nicht, dass gleich zwei Bürgermeister ihren beruflichen Hintergrund im Schankgewerbe hatten. 

Die schon erwähnte Arbeiterbewegung war dem Alkoholausschank gegenüber aber nicht uneingeschränkt positiv eingestellt. Der Gewerkschaften warnten vor übermäßigem Alkoholkonsum – um die Vorurteile der Unternehmer gegenüber den Arbeitern und die Erzählungen des moralisch unlauteren Proletariats nicht zu bestätigen. Dabei machten nicht nur die vielen Kneipen der Stadt, sondern auch die aufkommenden Trinkhallen diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Eigentlich als Ausschank-Orte für sauberes Wasser ins Leben gerufen, wurde auch hier bald unter der Ladentheke Bier und Schnaps verkauft.

In den Statistiken des 20. Jahrhunderts sieht man dann den sogenannten Niedergang der Kneipenkultur und damit auch die einhergehende Veränderung im Stadtbild. Zum Abschluss gab es dann von Dr. Daniel Schmidt noch eine Feststellung: Der Job als Kneipier schien lange lukrativ – nicht umsonst entscheiden sich viele Schalke-Spieler nach einer Fußballkarierre für den Platz hinterm Tresen. 

Im Anschluss startet Prof. Dr. Martin Franz seinen Vortrag “Das Ende der Kneipen und warum ich sie vermissen werde”. Bevor er darin das Kneipensterben analysierte und Verbesserungsvorschläge für Kommunen präsentierte, wurde es anekdotisch und man durfte mit dem Vortragenden in die Kneipe, in der er mit “Kinderschnaps” (Fanta im Pinnchen) schon früh an die Gastwirtschaft gewöhnt wurde, eintauchen.

In der anschließenden Diskussion wurde ausgiebig über den gesellschaftlichen Wert und städtebauliche  Funktion der Kneipe diskutiert. 

Seitdem konnte Franz persönlich eine Veränderung von Kneipen feststellen – weniger Thekensitzer, größere Getränkeauswahl und Speisekarten, die mehr bieten als eine Frikadelle. Diese persönliche Feststellung hat unter anderem dazu geführt, dass der Humangeograph sich auch wissenschaftlich mit dem Thema Kneipensterben auseinandergesetzt hat. 

Die rein quantitativen Fakten sprechen für sich. Heute gibt es 54% weniger Kneipen als vor 20 Jahren. Der Verlust ist in der Fläche zu spüren – wenn Gastronomie auftaucht, dann oft geballt an einem Ort. Und Covid-19 hat den Prozess verstärkt – aber nicht allein bedingt. Die Gründe dafür sind vor allen Dingen zwei technische Geräte. Der Kühlschrank und der Fernseher. Während der Kühlschrank für die einfache Verfügbarkeit von Bier im eigenen Haushalt steht, symbolisiert der Fernseher ein verändertes Freizeitverhalten, das vor allen Dingen in den eigenen vier Wänden stattfindet. 

All das führt dazu, dass ein Zapfhahn allein die Massen nicht mehr in die Kneipe lockt. Es braucht ein besonderes Angebot und Erlebnisse, die über das gezapfte Bier hinausgehen. Die Ansprüche an das kulinarische Angebot, die Einrichtung und das kulturelle Programm sind gestiegen. Dazu kommt, dass die klassische Eckkneipe ein weiteres Problem bekam, als Außengastronomiekonzepte groß wurden. Die Erkenntnisse über die Negativ-Faktoren für die Kneipe hat Franz vor allen Dingen aus explorativen Interviews mit vielen Gastwirten aus ganz Deutschland gewonnen. Diese haben auch bestätigt, dass die Corona-Pandemie neben veränderten Verhaltensweisen, wie z.B. auch einem erhöhten Gesundheitsbewusstsein und der Entstehung von Systemgastronomen auf der grünen Wiese ein entscheidender Faktor für viele Kneipenschließungen war.

Aber es gibt auch gute Gründe für Menschen und Kommunen, ihre Kneipen zu unterstützen. Laut Franz stärken sie die lokale Identität und sind ein Wirtschaftsfaktor in der lokalen Ökonomie mit hohen Kopplungseffekten mit anderen Wirtschaftszweigen. Gerade in Großstädten ist Gastronomie ein Standortfaktor für die Anwerbung bestimmter Berufsgruppen (Richard Florida) und es zeigt sich, dass die Gastrolandschaft einen hohen Einfluss auf die Wohnortwahl hat (Karl Lichtblau et al.) Zum Abschluss gab es Empfehlungen für Kommunen zur Stärkung der Kneipen und ähnlicher Gastronomien: Dazu zählen z.B. die Förderstrukturen für den Innerstädtischen Einzelhandel auch auf die Gastronomie übertragen, Vermeidung von freistehende Systemgastronomie ausserhalb des Innenstadtbereichs oder die Vernetzung von Wirten zum Wissensaustausch. 

Spätestens in der anschließenden Diskussionsrunde wurde klar: Das Wichtigste an der Kneipe ist die überraschende Begegnung mit Menschen, die man sonst nie getroffen hätte. Damit trägt jeder Tresen zu einer offenen, vielfältigen Gesellschaft bei, in der Menschen im Austausch sind. In diesem Sinne, Prost!

Die kompletten Vorträge gibt es bald hier im Blog und auf unsere YouTube-Kanal.